Die Wiederentdeckung der Brettchenweberei
  Brettchenweberei heute
Dank der deutschen Forscherin Magarethe Lehmann-Filhes wurde das Interesse für die Brettchenweberei gegen Ende des letzten Jahrhunderts wieder geweckt. Diese Wiederentdeckung wurde ausgelöst durch das grosse Interesse an archäologischen Studien jener Zeit, im speziellen durch die Erfolge von Schliemann und anderen Forschern Ende des 19.Jahrhunderts. Der Anthropologe Hjalmar Stolpe fand 1873 in Birka, Schweden, ein Brettchen aus Knochen. Dieser Fund sowie Forschungsarbeiten über Brettchenwebereien in Indien bei (Reuleaux) und Bukhara (bei Knapp) um 1880 trugen viel bei zum allgemeinen Interesse an der Sache. Zu jener Zeit befasste sich Margarethe Lehmann-Filhes eingehend mit Studien der isländischen Brettchenweberei. Um die Gewebe zu verstehen, hat sie die Technik rekonstruiert. Sie entwickelte gewobene Bänder in einfachem Kettreps, Kettdouble sowie im Doppelgewebe. Ihre Nachforschungen öffneten Türen für das Verständnis des geschichtlichen Hintergrundes, der Vorkommnisse der Brettchenweberei sowie für die technischen Aspekte.

Brettchen und Kärtchen, welche seit langem staubig, in Museen herum lagen, wurden plötzlich als Webgeräte identifiziert. Erst dann realisierte man, dass die Brettchenweberei nicht nur auf eine große und reiche Geschichte zurückschaut, sondern immer noch in weit auseinander liegenden Teilen der Erde praktiziert wird. Im Jahre 1901 publizierte Margarethe Lehmann eine Broschüre unter dem Titel «Über Brettchenweberei», in welcher sie die Brettchenweberei beschrieb und erklärte. Zeitschriften publizierten Artikel, Fachbücher wurden geschrieben, Museen organisierten Ausstellungen und Sammlungen von brettchengewobenen Bändern wurden angelegt. Durch den Austausch von Forschungsergebnissen wurde deutlich, dass mit den Brettchen in ländlichen Gegenden in Japan, China, Tibet, Indien, Burma, Syrien, Palästina, Nordafrika, Türkei, Griechenland und Skandinavien immer noch Bänder gewoben wurden.

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Die Brettchenweberei wurde um 1920 in den Vereinigten Staaten von Mary Meigs Atwater bekannt gemacht, welche, zusammen mit weiteren Interessierten, das Handwerk unter amerikanischen Webern populär machte. Erst in den sechziger Jahren allerdings gelang es Webern wie Lillian Elliot, Robert Cranford und Kay Sekimachi, mit brettchengewobenen Wandbehängen nationale Erkennung, zu erhalten. In vielen Textilfachschulen in Amerika und Europa gehört die Brettchenweberei zum ordentlichen Lehrplan. Die Einfachheit der benötigten Werkzeuge und die komplexen Musterungsmöglichkeiten werden immer wieder Weberinnen und Weber faszinieren. Die Brettchenweberei eignet sich nicht für eine Mechanisierung, und steht außerhalb jeder Produktionsweberei. Mary Meigs Atwater hat sie treffend als ein «Seitenprodukt» der Handweberei bezeichnet. Soweit uns bekannt ist, war die Brettchenweberei kein Vorläufer der Weberei am Webstuhl. Sie wurde in Kulturen entwickelt und angewendet, die bereits auf eine Geschichte der Weberei zurück blicken konnten und eine Sensibilität zu gewobenen Textilien hatten. Die Brettchenweberei ist eine faszinierende, anspruchsvolle Technik, die für Kopf und Hand eine Herausforderung bedeutet und vor allem intellektuelle Weberinnen und Weber anspricht. Ein paar wenige Textilkünstler und -künstlerinnen haben die Technik als ihr häufigstes Ausdrucksmittel gewählt. Viele üben sich darin nur, um die Technik zu beherrschen, andere wiederum verwenden diese Webtechnik, weil sie nur einfache Werkzeuge erfordert.

Forscher entdeckten und analysierten immer wieder außerordentliche Textilien, wie z. B. die Gondar-Tapisserie, zu besichtigen in der Sammlung des Royal Ontario Museums in Toronto, oder die Seidenstola in der Kirche von St. Donat, Arlon, Belgien. Diese Stücke erweitern unsere Kenntnisse in technischer, kultureller und ästhetischer Hinsicht. Seit der Jahrhundertwende wurden etliche Bücher und Beiträge zum Thema der Brettchenweberei in verschiedenen Sprachen publiziert. Speziell zu erwähnen ist ein wunderbares Buch von Peter Collingwood, "The Techniques of Tablet weaving", publiziert 1982; eine wissenschaftliche Studie und Erfassung aller heute greifbaren Informationen. Dieses Buch ist das ideale Nachschlagewerk gewissenhaften Lernenden.